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In freiem Fall - Briefwechsel zwischen Joseph Roth und Stefan Zweig


Volker Weidermann
in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 22

Das dramatischste Buch über die Zeit des Exils in Europa:  Der Briefwechsel zwischen Joseph Roth und Stefan Zweig


Das belgische Schnapsverbot war der Grund gewesen, warum Stefan Zweig seinen Freund Joseph Roth hierher nach Ostende eingeladen hatte, wo das Foto auf dieser Seite entstand, das einzige Foto, das die beiden gemeinsam zeigt. "Ein für Sie sehr vorteilhaftes Schnapsverbot", hatte er am 4. Juli 1936 auf einer Postkarte an Roth angeführt. Und Roth kam - trotz seiner Liebe zu hochprozentigen Getränken. Oder gerade deswegen. Er wusste ja, dass der Schnaps ihn töten würde. Er war ja hellsichtig wie kaum ein Zweiter, hellsichtig nicht nur in literarischen und politischen und moralischen Fragen, sondern auch bei der Beobachtung seiner selbst. "Der Trieb zur Selbstvernichtung hat sich ganz nackt gezeigt", hatte er schon Jahre zuvor tief erschrocken an Zweig geschrieben, nachdem er bei einem Gespräch mit einem seiner Verleger volltrunken das Bewusstsein verloren hatte.


Zwei Untergeher unterhalten sich. Zwei Entwurzelte schreiben einander Briefe, manchmal treffen sie sich, wie hier in Ostende, mal in Salzburg, Amsterdam, Brüssel, Wien, oft in Paris; in Cap d'Antibes schreibt Roth 1932 seinen "Radetzkymarsch", Zweig hilft mit Ideen, Erinnerungen, Formulierungen, bezahlten Rechnungen, Trinkbegrenzungen. In seinen Roman "Hiob", der 1930 erschien, schrieb Roth die Widmung "Stefan Zweig, dem ich den Hiob zu verdanken habe - und mehr als den ,Hiob' und mehr als überhaupt ein Buch bedeuten kann - soviel wie eine Freundschaft bedeutet: möge dieses Exemplar als geringen Gruß annehmen und behalten. Joseph Roth."


Der Briefwechsel dieser beiden Freunde ist das eindrucksvollste Buch über die Zeit des Exils, das ich kenne. Es erscheint erst jetzt, dreiundsiebzig Jahre nachdem der letzte Brief zwischen Roth und Zweig gewechselt wurde. Ja, viele der Briefe waren schon einmal publiziert worden, in der von Hermann Kesten schludrig, lückenhaft und mit Zufallskommentaren versehenen Ausgabe der Briefe Joseph Roths, die 1970 bei Kiepenheuer und Witsch erschienen war. Man konnte sich aus dieser Ausgabe vieles zusammensuchen. Aber jedem, der in diesem Buch gelesen hatte, war klar: Dieses Herzstück der Roth-Briefe musste, gemeinsam mit den Briefen Zweigs, unbedingt gründlich, genau und so vollständig wie möglich ediert werden. Die Roth-Forscher Madeleine Rietra und Rainer-Joachim Siegel haben jahrelang gesucht, geforscht, zusammengetragen. Auch wir haben hier in dieser Zeitung vor Jahren einen Suchaufruf nach Zweig- und Roth-Briefen veröffentlicht. Und jetzt endlich ist es so weit: Der Roman des Exils erscheint in dieser Woche im Wallstein-Verlag. Es ist ein begeisterndes, dramatisches, tragisches Monument geworden. Die Geschichte eines Untergangs. Eine Geschichte aus den Jahren, als die Brücke einstürzte, die uns verband mit der Zeit davor, der Welt von gestern, von der die österreichischen Juden Stefan Zweig und Joseph Roth geschrieben haben; die sie beschworen haben, als sie in der Mitte standen, in der Mitte der Brücke, als sie erste Risse zeigte, als sie einstürzte und sie selbst und alles, an das sie glaubten, mit in die Tiefe riss. Die Jahre dieses Briefromans sind die Jahre in der Luft. Zwei von Millionen im freien Fall. "Denn losgelöst von allen Wurzeln und selbst von der Erde, die diese Wurzeln nährte, - das bin ich wahrhaftig wie selten einer in den Zeiten", hat Zweig in seinem Erinnerungsroman "Die Welt von gestern" geschrieben.


Dabei war er lange Jahre für Joseph Roth der Halt gewesen. Er ist in diesem Briefwechsel wahlweise: Goethe, die Vernunft, die Sonne, der große Bruder, der unglückliche Liebhaber oder einfach: Stellvertreter Gottes. "Wen soll ich rufen: wenn nicht Sie? Sie wissen, dass Gott sehr spät antwortet, meist nach dem Tode." Zweig stellte sich blind, viele Jahre lang. Er wollte das Unglück nicht sehen, das ihn und seine Welt ereilte. Er war ein Sonnenmensch, Roth kam aus der Dunkelheit. Die beiden spielen diese Grundkonstanten ihres Lebens in unzähligen Variationen durch. Zweig, Millionärssohn aus Wien, damals meistgelesener deutschsprachiger Autor, und Roth, vaterlos, in ärmlichen Verhältnissen am äußersten Rand der Monarchie aufgewachsen - ein assimilierter, selbstgewisser Westjude und ein Ostjude, zeitlebens auf schwankendem Boden. Voller Untergangsahnung, von Anfang an.


War Zweig naiv? In einem Brief vom 17. Januar 1929 schreibt er, die Sorgen Roths über die sich verschärfende Judenfeindlichkeit wegwischend: "Die Judenfrage löst sich (leider) durch die Auflösung aller Unterschiede in unserer immer schneller kreisenden europäischen Retorte." Ja, naiv. Wie blind und optimistisch konnte man sein 1929? Roth war hellsichtig, wusste alles voraus. Sein Schicksal, das der Juden in Europa, er wusste es und wütete gegen alle, die sich und die Welt beruhigen wollten, die den Willen zum Optimismus sich bewahrten. An Zweig schrieb er: "Ihre Klugheit ist groß, aber Ihre Menschlichkeit verhindert Sie, Schlechtes zu ,sehn', Sie leben vom Glauben und von der Güte. Aber ich sehe und ahne manchmal durchaus und verblüffend treffliche Dinge von der Schlechtigkeit."


Ja. Davon lebt dieses dramatische Buch vor allem: von der Weisheit, der Radikalität, der Unerbittlichkeit dieses immerzu betrunkenen Hoteldichters. Und man verliert dabei automatisch jene andere Lesart aus dem Blick: dass 1929 ja wirklich noch alles hätte anders kommen können. Dass auch Zweig hätte recht haben können. Dass die "Monotonisierung der Welt", wie er sie in einem visionären Essay aus dem Jahr 1925 vorausgesehen hatte, sich auch auf die Herkunft der Menschen hätte beziehen können. Einebnung aller Unterschiede - im Positiven wie im Negativen - auch in Fragen der Religions- und Nationenzugehörigkeit. Für Zweig und Roth war das österreichische Kaiserreich die Utopie. Eine Utopie der Vergangenheit, wusste Zweig. Eine Utopie auch für die Zukunft, verlangte Roth. "Ich will die Monarchie wieder haben, und ich will es sagen." Und mehr als die alte Monarchie. Ein neues Europa, in dem man ohne Pass, von Ort zu Ort, von Hotel zu Hotel, von Bar zu Bar, zu allen Menschen reisen kann und in dem sich die alten Nationengrenzen langsam auflösen.


Naiv. Und möglich, vielleicht. In irgendeiner Welt. Zweig trauerte und resignierte. Roth wütete und hasste. Und schrieb wie ein Rasender, schnell und böse und flüchtig. Zwei Menschen in der Luft. Zwei Menschen an einem Kaffeehaustisch in Ostende: Zweig, lächelnd, milde, gönnerhaft, besorgt. Roth mit verschleiertem Kamerablick, resigniert, den Gönner an seiner Seite. "Retten Sie mich!", dieser Ruf ertönt immer wieder aus diesen Briefen. Und Zweig schickt Geld und Geld und schreibt beschwichtigend, Gott möge ihn, Roth, vom Geld befreien. Das fehlte gerade noch. Keineswegs, schreibt Roth: "Gott gebe mir Geld! Viel Geld!" Und ist natürlich empört über Zweig, der Bescheidenheit predigt, während Zweig selbst auch ohne Bucherfolge von einem schönen Geldberg leben kann. Roth lässt sich von den Verhältnissen keine Bescheidenheit aufzwingen. Im Gegenteil, nur Zwerge sind bescheiden. Gerade in einer einstürzenden Welt, in der kaum noch jemand ein Buch von Joseph Roth kaufen mag, gerade in einer solchen Welt muss man sich seines Wertes bewusst bleiben. Wissen, was es bedeutet, dass ein Zweig schreibt, dass ein Roth schreibt, dass das alles bedeutet. Mehr als die russische Revolution, mehr als "das sogenannte Weltgeschehen". Hitler wird ihm nicht auch noch den Schnaps wegnehmen und den Stolz.


In Ostende ist er Zweig dankbar, die beiden arbeiten gemeinsam, Roth kritisiert Zweigs gefühls- und adjektivüberladene Prosa wie immer scharf und unbarmherzig. Roth schreibt am Abend von Hotel zu Hotel, "wie lieb Sie mit heute waren mit


dem Hotel und Allem". Und Zweig schreibt an seine Frau Friderike: "Auch Roth habe ich sehr hinaufgebracht, er ißt jetzt täg-


lich - nur zu spazieren gehen oder gar baden kann ich ihn nicht bezwingen." Das einst brüderli-


che Verhältnis hat sich längst zu einer Mutter-Kind-Beziehung verschoben. Das konnte der stolze Roth nicht lange ertragen. In den letzten Briefen herrscht Bitterkeit. Zweig fleht um Bewahrung der alten Freundschaft. "Bleiben wir beisammen, wir Wenige!", bittet er. Doch längst fliegt jeder für sich allein. Roth antwortet: "Meine Worte dringen vielleicht nicht zu Ihnen, so eingekapselt sind Sie, wie eine geschlossene Muschel. Sie hören Ihr eigenes Geräusch und halten Sich für die Stimme der Welt, der Vernunft."


So ging jeder unter in seiner eigenen Welt. Roth schon 1939 in Paris, Zweig drei Jahre später in Brasilien. "Alles Herzliche und daß (trotz allem!) das kommende Jahr nicht schlimmer sein möge als das vergangene", hatte Zweig in seinem letzten Brief an Roth im Dezember 1938 ihnen beiden zum Abschied gewünscht.


VOLKER WEIDERMANN


"Jede Freundschaft mit mir ist verderblich". Joseph Roth und Stefan Zweig. Briefwechsel 1927-1939. Hrsg. von Madeleine Rietra und Rainer-Joachim Siegel. Wallstein-Verlag, 500 Seiten, 39,90 Euro


Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.09.2011, Nr. 38 / Seite 27