Viagem para o exílio

Friederike Manthey

(breve também em português)

REISE INS EXIL. EINE GEGENÜBERSTELLUNG VON STEFAN ZWEIGS REISELITERATUR ÜBER BRASILIEN UND SEINEN PERSÖNLICHEN AUFZEICHNUNGEN IM EXIL VOR UND WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS.
Freie wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des akademischen Grades Magister Artium im Fachbereich Literaturwissenschaft (Germanistik)
ZUSAMMENFASSUNG
Stefan Zweig ist Zeit seines Lebens immer gern und viel gereist. Zu diesen Reisen hat er mehrere kleine Beschreibungen verfasst, in denen er seinen Lesern unter anderem von Russland, Indien, Italien, Frankreich oder Nordamerika berichtet. Seine umfassendste Reisebeschreibung und damit auch die einzige in Buchform ist Brasilien – Ein Land der Zukunft. Ihr Umfang weist bereits auf die herausragende Stellung hin, die sie im Vergleich zu Zweigs übriger Reiseliteratur einnimmt: Die im Buch beschriebene Reise bildete für den Autor einen großen – denn persönlichen – Unterschied zu den vorherigen, und dies in ihrer Bedeutung für sein eigenes Leben, denn Stefan Zweigs Reise nach Brasilien mündete in seiner Reise ins Exil.
Der erste Themenkomplex der Magisterarbeit stellt die Monografie Brasilien – Ein Land der Zukunft der ihr vorausgegangenen Artikelfolge Kleine Reise nach Brasilien und der Rede Dank an Brasilien, die Zweig 1936 anlässlich seiner ersten Reise in das Land verfasste, gegenüber. Behauptet wird, dass die Artikelfolge und die Rede als Grundlage des späteren Buches zu betrachten sind und dass alle drei Texte Spiegel der Suche nach einem neuen Lebensraum, einer lebenswerten Zukunft und damit einer neuen Heimat nicht nur für Zweig, sondern für alle Flüchtlinge des kriegsgebeutelten, sich selbst zerstörenden Europa des Zweiten Weltkriegs sind. Aufgrund dessen bezieht sich die der Arbeit zugrundeliegende Untersuchung weniger darauf, inwieweit Zweigs Darstellung von Brasilien der Wahrheit entspricht oder inwieweit seine Nachforschungen gründlich genug waren. Vielmehr soll aufgezeigt werden, was den Autor dazu bewegte, über dieses Land zu schreiben und aus welchen Gründen er in welcher Weise argumentiert. Der Fokus der Untersuchung liegt daher auf einer entstehungszeitlich bedingten Sichtweise der Zweigschen Ausführungen. Zur Darstellung dieser Sichtweise werden neben der Betrachtung der Reisebeschreibungen und der Rede als zweiter Themenkomplex auch die persönlichen Aufzeichnungen Stefan Zweigs aus der Zeit seines Exils herangezogen, darunter zahlreiche Briefe und Tagebucheinträge. In ihnen lassen sich bereits die Auslöser der Intention des Schreibens über Brasilien finden. Die dort dokumentierte persönliche Situation, in welcher der Autor sich unmittelbar vor und während des Zweiten Weltkriegs befand, initiierte eine Argumentationskette, die sich auf das Erlebte stützt und deren Zielsetzung unmittelbar aus diesem resultiert. Durch die damit begründete herausragende Stellung der Zweigschen Texte über Brasilien im Kontext der Gattung Reisebericht wird eine übergeordnete Ebene preisgegeben, die sie in Abhängigkeit von der persönlichen Lebenssituation stellt und damit als Exilliteratur identifiziert.
Brasilien als Land der Zukunft zu betrachten, ist kein Zweigsches Phänomen. Vielmehr wird das Land bereits seit seiner Entdeckung im Jahr 1500 immer wieder mit dem Garten Eden in Verbindung gebracht und ihm eine verheißungsvolle Zukunft prognostiziert. Unzählige Bücher behandeln dieses Thema ebenso wie Zweigs Brasilien – Ein Land der Zukunft. Und einige haben sogar den selben Titel. Was Stefan Zweigs Beschreibungen des Landes von Ihnen abhebt, ist die Intention des Schreibens. Bereits in der Einleitung zu Kleine Reise nach Brasilien macht der Autor unmissverständlich klar, warum er über Brasilien schreibt, und das spätere Buch ist, wie die Untersuchung zeigt, als Ausarbeitung dieses Ansatzes zu verstehen. In beiden Reiseberichten sowie in der Rede Dank an Brasilien weist Stefan Zweig sowohl auf die unzulängliche und rückwärtsgewandte Entwicklung Europas als auch auf seine eigene Vorstellung der großartigen Zukunft Brasiliens hin, das ihm in seiner ‘humanen Gesinnung’ mindestens ebenbürtig zu Europa erscheint. Die Hauptaussage und Intention des Schreibens ist somit allen drei Texten gemein: Brasilien repräsentiert für Stefan Zweig die friedliche Zukunft, die Europa nicht länger bevor steht und die es zudem noch nicht zu erkennen imstande ist. Und darum ist es dem Autor ein besonderes Anliegen, sein Wissen und seine Vision dieses Landes weiterzugeben.
In den Reiseberichten ist der Bezug zu und der Vergleich mit dem Europa ihrer Entstehungszeit durchgehend präsent. Und beide Berichte sind eine Verherrlichung Brasiliens, gespickt mit Beschönigungen und Verklärtheiten. Nach Zweig gibt es kaum Kriminalität, keinen Rassenhass, und selbst die Armut ist in diesem Land besser zu ertragen als anderswo, die Gefängnisse sind human und die Familienstruktur noch altbewehrt von den Herren des Hauses dominiert. Der Autor konstruiert das Brasilianische durchgehend als positiv konnotierte Steigerung oder Umkehrung europäischer Verhältnisse, die dem Leser einen gesamtpositiven Eindruck des Landes vermitteln und den Glauben an dessen verheißungsvolle Zukunft glaubwürdig machen. Vor dem Lesenden baut sich ein utopisches Paradies auf – ein exotisches Land, das seine zivilisatorischen Vorzüge vor allem europäischen Einwanderern verdanken soll und das die Hoffnung aufkeimen lässt, ein neues, friedliches ‘Europa’ werden zu können, ein Europa, wie es Zweig in alten Zeiten erlebt hatte. Dieses Konzept der fortwährenden Gegenüberstellung macht deutlich, dass Stefan Zweig mit seinem Schreiben über Brasilien ein aufklärerisches Ziel verfolgt, dass weit über die Reflektion einer Reise und Beschreibung eines Landes hinaus geht. Die eigentliche Aussage, die beiden Reiseberichten gemein ist, kehrt einen unverkennbaren Fokus hervor, der sich explizit auf die Geschehnisse der Zeit in Europa bezieht, die Zweig auf Brasilien projiziert, um an ihnen zu beweisen, dass Brasilien ein funktionierendes Gegenmodell zu Europa werden kann, das sich bereits jetzt in der Entwicklung befindet: eben ein Land der Zukunft.
Das Leben und Schreiben des Autors im Exil war eng verknüpft mit dieser in den Reiseberichten artikulierten Vorstellung von Brasilien. Die persönlichen Aufzeichnungen Zweigs zeugen von seiner Lebenssituation während des Exils, seinen geistigen wie politischen Einstellungen und seiner Auswegsuche aus der scheinbar ausweglosen Situation des nationalsozialistischen Terrors, der sich mit Kriegsbeginn auf die gesamte Welt auszubreiten drohte. Sie belegen, dass sein Schreiben über Brasilien für ihn keine Fiktion war, sondern Glaube und Hoffnung. Der Standpunkt, von dem aus Stefan Zweig Brasilien beurteilt und beschreibt, lässt den Leser die Weltanschauung des im Exil lebenden Autors kaum einen Augenblick vergessen, und in den persönlichen Aufzeichnungen findet sich diese bestätigt: Zweigs eigene Reise nach Brasilien führte ihn in sein Exil, was beweist, dass er selbst an seine Zukunftsvision glaubte oder zumindest zu glauben versuchte – an ein Land, dass ihm Zuflucht gewährte und neue Heimat sein sollte – weit weg vom Geschehen des Krieges, in der Hoffnung, dass dies weit genug sein würde. Und dass er sich dort das Leben nahm, ist vielleicht als Resignation vor der Erkenntnis zu sehen, dass seine Vision sich nicht auf die Realität der Schrecken des voranschreitenden Krieges anwenden ließ.
INHALTLICHE SCHWERPUNKTE DER UNTERSUCHUNG
1. IM LAND DER ZUKUNFT: STEFAN ZWEIGS REISELITERATUR ÜBER BRASILIEN:
Die Entstehung der beiden Reisebeschreibungen Kleine Reise nach Brasilien und Brasilien – Ein Land der Zukunft, die Intention des Autors: ein Vergleich der Rede Dank an Brasilien und der einleitenden Worte zu beiden Reisebeschreibungen, die Umsetzung der Vermittlungsabsicht in Kleine Reise nach Brasilien und Brasilien – Ein Land der Zukunft
2. EXILSITUATION UND AUSWEGSUCHE: ZU STEFAN ZWEIGS LEBEN UND SCHREIBEN IM EXIL VOR UND WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS:
Verlust der Heimat und Flucht ins Exil, die Briefe und Tagebücher als Dokumentation des Exils, Exil als Neuanfang: zu Zweigs ‘Traum’ von Brasilien, die persönlichen Aufzeichnungen und ihr Bezug zu den Reiseberichten, Flucht und Zuflucht: zu Zweigs Tagebüchern des Krieges, Brasilien – Ein Land der Zukunft: Rezeption und Resonanz in Brasilien, Zweigs Reaktion auf die brasilianische Kritik, ‘Traum’ versus ‘Trauma’: zu Zweigs Resignation vor der Zukunft

DANKSAGUNG
Besonders bedanken möchte ich mich bei Prof. Jeffrey B. Berlin, der mir mit viel Geduld meine Fragen beantwortete, wertvolle Hinweise zu meiner Untersuchung gab und mir mehrere seiner Essays und Studien sowie die einiger Kollegen zur Verfügung stellte. Desweiteren geht mein Dank an Dr. Marlen Eckl und Dr. Robert Weldon Whalen, die mir die bis dato unveröffentlichten Manuskripte Ihrer Vorträge anlässlich des im Oktober 2009 stattgefundenen Stefan Zweig Symposiums an der State University of New York in Fredonia, USA zur Verwendung in dieser Magisterarbeit überlassen haben.
Berlin, den 06.11.2010
Friederike Manthey